Die Stadt übernimmt das höhere Schulwesen
Zweifellos war die Rektoratsschule in ihrer Zeit eine hochinteressante, aber auf die Dauer keine ideale Lösung: Genaugenommen unterrichteten Altenas Pastoren ihre Schüler in der ihnen neben ihren eigentlichen seelsorgerischen Pflichten verbliebenen Freizeit. Es wurden Morgen-, Mittag- und Abendstunden unterschieden. Der Unterricht fand in der Regel morgens von 6 bis 8 Uhr, mittags von 12 bis 14 Uhr und wohl auch abends von 18 bis 19 Uhr statt. Der Unterricht wurde deswegen so gelegt, damit er die Teilnahme an den täglichen Gottesdiensten nicht behinderte. So hatten die Lateinschüler einen schier endlos langen Schul- und Kirchtag. Wenn sie gerade keinen Unterricht hatten oder kein Gottesdienst stattfand, mussten sie unter der Aufsicht ausgewählter älterer Schüler Schreiben, Rechnen und vor allen Dingen Auswendiglernen. Da mag es vielleicht für die Schüler sogar eine willkommene Abwechslung gewesen sein, wenn sie aufgefordert wurden, mit ihrem Pastor einen verstorbenen Bürger zu Grabe zu geleiten. Diese „Leichenzüge“ waren für die Schüler Pflicht, weil sich aus ihnen die Besoldung ihrer Lehrer ergab. Die Pastoren durften nämlich als Gegenleistung für ihren Unterricht neben Geldern aus der „Kirchmess“ auch die Leichengelder einbehalten. Als im Jahre 1636 in Altena innerhalb von 4 Monaten nicht weniger als 687 Menschen an der Pest starben, floss das Leichengeld in Strömen. Gleichzeitig häuften sich die geistlichen Funktionen aber derart, dass der Vikar Johannes Mehlmann sich beschwerte, auch noch die Schularbeit “wie beim ersten Antritt zwar angelobet, zu verrichten.“ (15).
Abb. 6: Im Jahre 1854 erwarb die Stadt Altena das Haus des Drahtziehers Löttgert am Bungern Nr. 111. Das alte Schulhaus wurde „Zacharias“ genannt und sollte bis zum Jahre 1903 das Schulhaus von Altenas höherer Stadtschule bleiben.
Im Laufe der Zeit wurden die Einkünfte der Pastoren aufgrund einer geänderten Kirchenordnung zwar erhöht und regelmäßiger ausgezahlt, doch wurde mit den Jahren auch zunehmend deutlich, dass die Vereinbarkeit von seelsorgerischen Pflichten einerseits und Unterrichtsverpflichtungen andererseits die Pastoren überaus schwer belastete.
Als dann um das Jahr 1839 der Unterrichtsraum auf dem Dachboden der Lutherkirche so verfallen war, dass er im Winter kaum noch benutzt werden konnte, und eine Reparatur nicht lohnend erschien, befasste sich die städtische Schulkommission mit der Angelegenheit. Man war der Ansicht, dass die Lateinschule für die ganze Stadt von Vorteil sei, nicht nur für die lutherische Gemeinde, und man ersuchte die Stadtverordneten-Versammlung, öffentliche Gelder für die Anmietung zweier Schulräume in der Freiheiter Elementarschule bereitzustellen.
Angesichts der dramatisch sinkenden Schülerzahl in der Rektoratschule waren schließlich Magistrat, Schulkommission und Stadtverordneten-Versammlung einig darüber, das höhere Schulwesen in Altena aus den Händen der Kirche in die Verantwortung der Stadt zu überführen. Der Schulvorstand der Elementarschule Freiheit erklärte sich bereit, im gerade neu errichteten Elementarschulgebäude am Bungern zwei Klassenzimmer für 40 Taler an die Rektoratschule zu vermieten. Am 1.5.1843 wurde die „höhere Stadtschule“ in den Schulräumen am Bungern eröffnet.
Zuerst waren es nur zwei Klassen
Dank der kultivierten Unterbringung in zwei renovierten Klassenzimmern der Elementarschule am Bungern und dank des interessanten und differenzierten Lernangebotes wurde die „Höhere Stadtschule“ ein Erfolgsmodell. Die Schülerzahlen nahmen rapide zu, allein in den ersten vier Jahren verdoppelten sie sich, von 23 im Frühjahr 1843 auf 48 im Frühjahr 1847. Den Charakter von Altenas neuer höherer Stadtschule beschreibt ein Artikel aus dem Wochenblatt für den Kreis Altena vom 22.April 1843:
„Die bisherige Rektoratschule in Altena wird im Einverständnisse mit den dabei betheiligten Korporationen und unter Genehmigung der Königlichen Regierung in eine höhere Stadtschule mit zwei Klassen und Lehrern umgewandelt. Ausser dem bisherigen Rektor Heidemann ist ein zweiter Lehrer, der den Titel Conrektor führen wird, in Person des Kandidaten Herrn Friedrich Voswinckel angestellt worden. Der Unterricht im Rechnen und Schönschreiben, so wie im Zeichnen, ist besonderen Lehrern übertragen. Diese höhere Stadtschule bezweckt nach ihrem Statut, neben einer christlich-sittlichen, die Erziehung zu einer allgemeinen höheren Bildung, wobei überwiegend die gewerbliche und kaufmännische Ausbildung berücksichtigt ist, jedoch auch die Anfangsgründe der gelehrten Bildung nicht ausgeschlossen werden sollen. Die Lehrgegenstände sind die deutsche, lateinische, französische und englische Sprache, Mathematik, Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, Physik, Schönschreiben, Rechnen und Zeichnen. – In den beiden Klassen wird von den Lehrern fachweise unterrichtet werden. An Schulgeld wird bezahlt für Söhne der Einwohner hiesiger Stadt in der ersten Klasse 15 Thlr., in der zweiten Klasse 10 Thlr. jährlich; für Söhne auswärtiger Aeltern aber in der ersten Klasse 18, in der zweiten Klasse 12 Thlr. Ausserdem muss von jedem Schüler für das Winterhalbjahr ein Beitrag zu den Heitzungskosten von 15 Sgr., und als Eintrittsgeld von jedem 1 Thlr. zur Unterhaltung des Schulinventars und zur Anschaffung von Lehrmitteln bezahlt werden.
Die höhere Stadtschule wird am Montage, den 1. Mai, eröffnet werden, und sodann haben sich alle diejenigen Schüler, welche daran Theil nehmen wollen, an dem benannten Tage Morgens 9 Uhr in dem betreffenden Lokale, in dem Schulgebäude der Freiheit, einzufinden. Altena, den 19. April 1843. Das Curatorium der höheren Stadtschule hierselbst „(15).
Erfolg und neue Herausforderungen
Die rasch ansteigenden Schülerzahlen in Altenas höherer Stadtschule bereiteten dem Kuratorium aber spätestens zehn Jahre nach seiner Gründung große Sorge, weil die Schule dadurch mehr Raum benötigte. Überhaupt hätte sich die Raumfrage noch viel eher gestellt, wenn, wie zunächst von der Schulkommission erwogen, die Anstalt „auch von Mädchen, wenigstens vormittags“, besucht worden wäre. „Nachmittags würden dieselben ohnehin wegen Erlernens von weiblichen Handarbeiten an dieser Schule keinen Teil nehmen, und so müßten dann diejenigen Unterrichtsgegenstände, welche sich nur für Knaben eignen, namentlich Sprachen, auf den Nachmittag verlegt werden“. Diesen Überlegungen schob die Regierung in Arnsberg aber einen Riegel vor. Im Schreiben vom 25.7.1842 heißt es: „Der Elementarschule entwachsene Knaben und Mädchen gemeinschaftlich in denselben Klassen dem Unterricht beiwohnen zu lassen, führt zu Übelständen mancherlei Art und kann von uns nicht gebilligt werden. Ist das Bedürfnis eines höheren Unterrichts für Mädchen vorhanden, so muß für diese eine eigene Schule errichtet werden“ (14).
Abb 7: Das alte Schulhaus am Bungern Nr. 111
Aufgrund der Raumnot verlegte man die höhere Stadtschule im Herbst 1853 aus dem Hause der Freiheiter Schule in einen Saal mit Nebenräumen oberhalb der Künneschen Messinggußwarenfabrik. Das war freilich keine glückliche Lösung, denn in die neuen Schulräume strömten aus dem Gieshaus durch Fenster- und Dielenöffnungen Zinkgase ein, und einige Schüler nahmen das zum Anlass, die Luft noch mehr zu verunreinigen, indem sie geflissentlich durch Öffnung des Ofens vor Beginn des Unterrichts Rauch einziehen ließen. Da unter solchen Umständen kein ordentlicher Unterricht möglich war, kündigte man den Vertrag mit dem Fabrikanten Künne wieder und brachte die Schule im Frühjahr 1854 provisorisch in den beiden Schulzimmern über der Kirche unter, bis sie schließlich am 8.3.1855 für fast ein halbes Jahrhundert in dem teilweise durch Neubau vergrößerten Hause Nr. 111 am Bungern, das „der Zacharias“ genannt wurde, eine geeignete Unterkunft fand.
Aus der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Gymnasiums: Günter Mähl; Altenas höhere Schule - Stationen und Begebenheiten. 2003, 8-11.