Im Rahmen des Literaturunterrichts erhielten die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, eigene Texte zum Thema „Freiheit“ zu produzieren. Die folgende kurze Geschichte stellt ein Ergebnis dar, welches die aktuelle Situation in der Ukraine aufgreift und den davon betroffenen Personen eine Stimme verleihen soll:
Der unwillkommene Gast
Jeskos Sicht:
Ich versuche, die Haustür zu öffnen. Meine Hände sind am Zittern, die Schlüssel fallen runter.
Als ich diese aufheben will, öffnet Darya bereits die Tür. Ihre Miene so besorgt wie meine. Ihre Gedanken jedes Mal in Angst getunkt, wenn sie etwas Lautes hört. Mein Körper fühlt sich schwer an. Jeder Schritt lässt meinen Leib mehr einem Stein ähneln. Ich war nicht bereit. Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich unsere Tochter. Mira sitzt auf dem Teppich und faltet einen Papierkranich - ohne Sorgen; ohne Leid.
Darya hat bereits die Koffer gepackt. Wir blicken unsere Wohnung an; einst unser Platz zum Wiegen in Sicherheit. Wände mit Büchern versehen. Eingerahmte Bilder, welche unsere schönen Momente festhielten. Stille würde nun diese Wohnung übersäen, bis diese durch den Lärm der Bomben durchbrochen wird.
Wir müssen bis zum Bahnhof laufen und bei jedem Blinzeln wird mir die Dunkelheit bekannter. Sie ist inzwischen ein Teil meines Seins. Mehrere Familien stehen schon dort und verabschieden sich. Von weitem hört man bereits das Bröckeln der Wände, die eine Familie vor der Welt schützen sollten. Ein Zuhause, das sie gemeinsam um sich herum gebaut hatten. Mit Schmerz in den Augen müssen sie dabei zusehen, wie es zerstört wird. Die Versprechen, die sie sich geben, sind Lügen in Hoffnung verkleidet. Der Krieg wird die Zurückgebliebenen mit offenen Armen empfangen - mich ebenfalls.
Wir stehen vor dem Zug. Meine Kehle schnürt sich zusammen. Wir sind nun eine dieser Familien. Darya trifft nach gescheiterten Versuchen meinen Blick. Sie will mir mit milden Worten versichern, dass alles gut werde. Es würde alles wieder zum Alten werden. Ich lasse sie verstehen, dass ich ihr glaube. Dennoch ist uns beiden bewusst, dass der Krieg unser Leben verändern wird. Der Krieg würde uns zu unseren Grenzen drängen. Wir würden Seiten an uns kennenlernen, die sich tief im Schatten verborgen haben, und uns selbst gegenüber fremd sein. Wir sind nicht in der Lage, dieses düstere Kapitel zu überschlagen, so sehr wir uns auch danach sehnen. Wir müssen diesen unwillkommenen Gast hereinbitten, obwohl wir nicht diejenigen waren, die ihn einluden.
Während der Schaffner ankündigt, dass es an der Zeit ist, umarme ich meine Familie; meine Liebe, gleichwohl meinen Kummer. Meine Augen brennen; meine Sicht verschwommen; die Stimme gebrochen. Ich drücke sie fester an mich ran. Die Angst, dass ich sie morgen nicht als Erstes sehen werde, verengt meine Brust. Ich werde es vermissen, wie Darya morgens um fünf Uhr aufwachte, um sich Zeit fürs Lesen zu nehmen und das Licht mich vom Schlafen abhielt. Ich werde es vermissen, wie Mira sich Cocomelon auf dem Fernseher ansah, nachdem ich wegen Darya beschloss, im Wohnzimmer zu schlafen. Vor allem werde ich es vermissen, wie ich noch halb schlafend mit ihnen frühstückte. Ich gereizt, sie beide munter.
Nachdem ich sie loslasse, steigen sie in den Zug. Durch das Fenster kann ich meine Familie erspähen, doch sind sie zeitgleich meilenweit entfernt. Ein letztes Mal winke ich den beiden zu. Meine Hand lang ausgestreckt, berühre ich die Scheibe und Mira tut es mir gleich. Der Zug macht sich bemerkbar und fährt los. Ich laufe die restliche Strecke des Bahnsteigs mit ihnen. Meine Beine geben nach, ich sinke auf den kalten harten Asphalt. Mein Herz frei, meine Gedanken hier gefangen und begraben.
Ich war nicht bereit. Nicht bereit, sie gehen zu lassen. Nicht bereit, meine letzten Atemzüge alleine zu verbringen. Die schwere Last hinter mir herschleifend, folge ich dem zuvor zurückgelegten Weg nach Hause. Die Stille der Wohnung gewinnt langsam an Gewicht und lässt sich auf meinen Schultern nieder. Die Sonne geht unter, doch die Russen schenken uns Licht.
Dumpfe Schritte nähern sich. Eine Gestalt betritt den Raum. Ihre Umrisse wie die eines erwachsenen Menschen. Sie ist ihr eigener Schatten und bleibt stumm. Sie kommt in meine Richtung, setzt sich neben mich und leistet mir Gesellschaft. Schließlich bin ich doch für etwas bereit.
Ich hasse die Gestalt, gleichwohl bin ich dankbar dafür, dass ich nicht mehr alleine bin. Endlich, ist mein verbliebener Gedanke, der seine erste Silbe im kaputten Diesseits hinterlässt. Die Zweite bringt mich dazu, die Hand der Gestalt zu berühren und ihr zu folgen.
Daryas Sicht:
Wir steigen aus dem Zug. Mehrere Menschen am Bahnhof versammelt, gehen wir alle in eine Richtung. Wir begeben uns auf eine Reise wie Monarchfalter. Weg vom Winter; weg vom Krieg; weg vom Sterben. Das Fliehen vor dem Tod liegt fest verankert in unserer Natur. Der Natur des Überlebens.
Meine Beine finden keinen Halt auf dem Boden. Sie sind leicht und mein Oberkörper schwer. Der Herzschlag übertönt meine wirren Gedanken und ich laufe mit den Menschen, die aus der gleichen Geschichte heraustreten wie ich. Diese Menschen sind mir fremd, gleichwohl vertraue ich ihnen.
Es ist dunkel. Hilflose verzweifelte Seelen verstecken sich in ihren Häusern, machen ihre Gardinen zu in dem Glauben, dass der Krieg nicht existiere, wenn sie ihn nicht sehen würden. Die letzte Stunde hat geschlagen und sie entscheiden sich für diesen Weg. Dennoch wagen die Neugierigen sich, die Folgen des Elends anzugucken; Folgen des nicht mehr ertragbaren Leidens durch die Angst, welche sich als Schatten des Krieges auf die Gärten niederlegt und die mannigfaltigen Blumen zerdrückt. Ihre Blicke präzise auf mich gerichtet und scharf wie eine Klinge. Es tut mir leid, wiederholten sich die Worte in meinem Kopf. Es tut mir leid, dass ich weggehe. Sie gucken mich an, als würde ich eine Straftat begehen. Als würde ich aus freien Stücken meine Heimat verlassen; sie im Stich lassen. Ich ziehe meine Jacke enger an mich heran. Die Wärme der Hand meiner Tochter beruhigt mich ein wenig. Es regnet und mir kommt es so vor, als würde der Regen nicht die steinigen Gassen runter in den Schachtdeckel fließen. Nein, so als würde das Regenwasser mir bis zum Hals reichen und ich nach Luft ringen. Mein Spiegelbild kann ich in einer Pfütze erkennen. Das leicht flackernde Licht der Straßenlampe ist behilflich. Wer ist diese Person? Zarte Fingerkuppen streifen die Wange runter bis zum Schlüsselbein. Ein kalter Schauer übermannt mich. Der schmerzende Geruch macht sich nach Tagen bemerkbar. Die schmutzigen Klamotten kleben an mir. Meine Zukunft beschränkt sich auf die nächste Mahlzeit und auf die Frage, wo wir schlafen würden. Ich ähnle einem Tier und ich schäme mich dafür.
Vor mir glaube ich, den Frieden zu sehen. Die Grenze erwartet mich bereits. Tränen vor Freude fließen herunter. Meine letzte Kraft nutze ich dafür aus, um zu rennen. Ich renne, weil ich befürchte, dass die Grenze nach wenigen Momenten verschwinden würde. Ich kann förmlich die Freiheit schmecken. Süß wie Honig.
Endlich habe ich es geschafft. Triumphierend atme ich aus und schaue Mira dabei zu, wie sie genüsslich in das weiche Brot beißt. Nichtsahnend, dass die Einsamkeit meinen Rücken hochkriecht. Ich muss Jesko anrufen.
Verfasserin anonym